412 Namen
Informationen zum Projekt
Geschichte
Das Projekt versteht sich als Ansatz zur Sichtbarmachung von Vergessenem und Erinnerung an das Erinnern. Ausgangspunkt ist meine Beschäftigung mit dem ehemaligen Nebenlager Hirtenberg, das bis heute nicht durch ein Erinnerungszeichen öffentlich sichtbar gemacht wurde.
Rosa AndraschekWien, Juni 2018
Eine Linie ziehenZu Rosa Andrascheks Projekt 412 Namen (2019)
Von Gudrun Ratzinger
In einem der ersten autobiographischen Werke über die industrielle Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten schreibt Robert Antelme über die ungeheure Schwierigkeit, seine Erfahrungen, die er im KZ und auf den sogenannten Todesmärschen gemacht hatte, nach seiner Rückkehr anderen mitzuteilen:
„Vor zwei Jahren, als wir gerade zurückgekehrt waren, haben wir […] alle unter dem Druck eines regelrechten Fieberwahns gestanden. Wir wollten sprechen, endlich angehört werden. Man sagte uns, unsere physische Erscheinung allein sei schon beredt genug. Aber wir kamen gerade zurück, wir brachten unsere Erinnerung mit, unsere noch ganz lebendige Erfahrung, und wir verspürten ein irrsinniges Verlangen, sie so auszusprechen, wie sie war. Und doch schien es uns vom ersten Tag an unmöglich, die uns bewußt gewordene Kluft zwischen der Sprache, über die wir verfügten, und jener Erfahrung, die wir größtenteils immer noch am eigenen Leib verspürten, auszufüllen. […] Kaum begannen wir zu erzählen, verschlug es uns schon die Sprache. Was wir zu sagen hatten, begann uns nun selber unvorstellbar zu werden. Dieses Mißverhältnis zwischen der Erfahrung, die wir gemacht hatten, und dem Bericht, der darüber möglich war, bestätigte sich in der Folge immer mehr. Wir hatten es also tatsächlich mit einer jener Wirklichkeiten zu tun, von denen es heißt, daß sie die Vorstellung übersteigen. Damit war klar, daß wir nur durch Auswählen, und das heißt wiederum durch unsere Vorstellungskraft versuchen konnten, etwas über sie auszusagen.“ [1]
Robert Antelmes Unvermögen, über den am eigenen Leib erfahrenen Schrecken zu sprechen, sind der Unfassbarkeit der vergangenen Ereignisse geschuldet, einem Gefühl der Unvorstellbarkeit. Die von Opfern erlebte Unverfügbarkeit über die Sprache für das Mitteilen des unmittelbar Erlebten ist gänzlich verschieden zu dem Schweigen, das lange in Österreich herrschte, wenn es um die NS-Verbrechen ging. Dieses Schweigen hatte und hat vielfältige Beweggründe. Doch viel zu oft lag oder liegt der Grund einfach darin, dass es bequemer ist wegzusehen oder sich etwas nicht so genau vorzustellen. Denn wirklich Hinsehen oder Zuhören könnte bedeuten, dass etwas getan werden muss. Deshalb sind Initiativen, die versuchen, sich der NS-Geschichte anzunähern, so wichtig. Dazu gehört auch Rosa Andrascheks Projekt 412 Namen, das dazu anregt, die eigene Vorstellungskraft zu bemühen, um etwas von dem Geschehen zu erfassen, das sich vor rund 75 Jahren in Hirtenberg zugetragen hat. Zunächst fällt auf, dass Rosa Andraschek selbst keinen historischen Überblick gibt. Sie wählt vielmehr aus und lenkt den Fokus auf einige wenige Details: auf die genaue Lage von Baracken in einem Außenlager des KZ Mauthausen, auf eine rund 400 Namen umfassende Liste von weiblichen „Schutzhäftlingen“, die in diesem Lager interniert wurden und auf die Ruinen jener Fabrik, in der die Frauen gezwungen wurden, Munition herzustellen.
Das Projekt 412 Namen entfaltete sich über einen längeren Zeitraum: Zur monatelangen Recherche der Künstlerin in Hirtenberg und in verschiedenen Archiven kam die Kooperation mit Historiker*innen sowie Personen aus Hirtenberg und Umgebung, die an der Entstehung und Durchführungen einer Gedenkveranstaltung am 14. Juni 2019 in Hirtenberg mitwirkten. Dieses Gedenken an die Opfer wurde der eigentlichen performativen Setzung der Künstlerin vorangestellt. Diese bestand in der Begehung des Ortes, an dem sich das Lager befunden hat. Dort hatte die Künstlerin am Tag davor die Umrisse der Baracken mit Kalk markiert. Während der Begehung zog eine Performerin – Rina Lipkind – mehrmals mit dem Markierwagen die Linien nach. Zusätzlich war eine Soundinstallation mit den Namen der Inhaftieren zu hören. Zum Gesamtprojekt 412 Namen gehörte auch eine Präsentation im Kunstverein Baden sowie eine Homepage, die ein späteres Nachvollziehen dieses Projekts ermöglichen soll.
Im Kunstverein Baden gab Rosa Andraschek Fotografien von Ruinen der Patronenfabrik zu sehen und die Namen der im KZ-Nebenlager internierten Frauen zu hören. Zusätzlich zeigte sie Drohnenaufnahmen von jener Wiese, auf der die Schlafbaracken der inhaftieren Frauen standen. Historiker*innen kontextualisieren das Präsentierte in einem Begleittext und in einem Vortrag. Die Künstlerin malte somit kein vollständiges Bild des Vergangenen aus und sie illustrierte auch nicht die Berichte der Historiker*innen. Vielmehr setzte sie einige wenige Spuren des Vergangenen in Szene. Es blieb dem Publikum überlassen, diese mit den Berichten der Historiker*innen in Relation zu setzen, wobei Berichte und künstlerische Setzung einander nicht ergänzen, sondern sich unaufhörlich wechselseitig befragen. So gibt ein Film die Umrisslinien der damaligen Baracken zu sehen. „Genau hier sind also diese Gebäude gestanden“, scheinen uns die Aufnahmen zu sagen. Doch die Wiese selbst unterscheidet sich durch nichts von jeder anderen, landwirtschaftlich genutzten Wiese. Wir sehen also – genau betrachtet – nichts. Oder: Wir sehen, dass buchstäblich Gras über die Sache gewachsen ist. Oder aber: Wir sehen, wie jemand versucht, uns eine Vorstellung vom Vergangenen zu geben.
Die Soundinstallation beruht auf der Nennung der in Hirtenberg festgehaltenen und zur Arbeit gezwungenen Frauen. Die Namen entstammen jenen penibel geführten Listen, die erstellt wurden, um die NS-Maschinerie am Laufen zu halten und zusätzlich zu den Namen der Frauen auch ihre Nationalität, sowie den Ort und das Jahr ihrer Geburt vermerkten. Nur dann, wenn bekannt ist, dass die betreffende Frau bereits verstorben ist oder wenn sie als Zeitzeugin befragt wurde, wurden Vor- und Nachname genannt. Ansonsten wurde der Nachname abgekürzt, um die Persönlichkeitsrechte der Frauen zu wahren. Das führt zur paradoxen Situation, dass das Projekt 412 Namen den allermeisten Frauen in anonymisierter Form gedenkt. Die KZ-Häftlinge von Hirtenberg sind daher zweifach namenlos: Zum einen weil die Namen der Frauen, von denen Namen, Nationalität, Geburtsort und -jahr bekannt sind, noch nie veröffentlicht wurden – weder als Liste in einer Publikation noch auf einem Denkmal. Zum anderen sind diese Frauen namenlos, weil die Schutzfrist noch nicht vorbei ist, die generell die Nennung von personenrelevanten Daten regelt. Abgesehen davon, dass dieser Umstand zeigt, wie nahe die vergangenen Ereignisse eigentlich noch sind, d.h. es noch Menschen gibt, die dieses Unrechtsregime als Opfer oder als Täter*innen, als Zeugen*innen oder auch als Wegschauer*innen erlebt haben, ist das Einhalten der Schutzfrist insofern von überragender Bedeutung, als den Frauen als sogenannte „Schutzhäftlinge“ vom NS-Regime sämtliche Rechte genommen worden waren.
Der Begriff der „Schutzhaft“ zeigt, wie ungeheure Taten mit der gewaltvollen Verdrehung von Worten einhergehen. Denn im Nationalsozialismus wurde die „Schutzhaft“ offiziell mit der Prävention vor zukünftigen Straftaten begründet. Darüber hinaus wurde oft behauptet, sie würde dem Schutz der Betroffenen vor dem „Volkszorn“ dienen. Doch Dokumente belegen, dass spätestens ab 1942 diese „polizeiliche Sonderbehandlung“ als Mittel zur „Vernichtung asozialen Lebens“ durch Arbeit eingesetzt wurde. [2] In diesem Sprachgebrauch kann man in gewisser Weise ein Gegenstück zu der zu Beginn zitierten Stelle von Robert Antelme sehen. Denn Sprache wurde von den Nationalsozialisten ganz gezielt eingesetzt, um das Denken der Deutschen und Österreicher zu formen. Der „Nazismus glitt“, so der Philologe Victor Klemperer, der als deutscher Jude mit viel Glück in Dresden überleben konnte, „in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden“.[3]
Georges Didi-Huberman ruft im Hinblick auf die Ergebnisse von Victor Klemperers Analyse der von ihm als „LTI – Lingua Tertii Imperii“ bezeichneten Sprache des Nationalsozialismus dazu auf, heute genau hinzuhören, wie Sprache verwendet wird und zu beobachten, was geschieht, „wenn der Ausbeuter dem Ausgebeuteten sein Vokabular aufzwingt, wenn der Migrant ohne gültige Papiere gezwungen wird, seinen Status allein mit jenen Worten zu deklinieren, die der Beamte in der Präfektur gewählt hatte“.[4] Denn auch in der Gegenwart und insbesondere in Österreich können wir miterleben, wie Worte benutzt werden, um menschenfeindliche Politiken durchzusetzen: Während „Asylant“ schon länger als Schimpfwort benutzt wird, wird heute beständig daran gearbeitet, aus „Flüchtlingen“, d.h. aus Opfern von Gewalt, eine Bedrohung für „uns“ zu machen. Wenn die Worte ihre eigentliche Bedeutung verloren haben, wenn konkrete Menschen unkenntlich gemacht werden und mit Didi-Huberman gesprochen „namenlos“ sind, dann ist es ein Leichtes, diese Menschen in „Ausreisezentren“ zu „konzentrieren“ oder in „Sicherungshaft“ zu stecken.[5]
Rosa Andraschek setzt dieser gegenwärtigen Tendenz ihr Projekt 412 Namen entgegen, indem sie die Möglichkeit eröffnet, sich mit dem Gegebenen auseinanderzusetzen. So können die drei von der Künstlerin präsentierten Elemente dazu genutzt werden, um nachzudenken, wie Vergangenheit und Gegenwart zusammenhängen. Neben den gesprochenen Namen und den Luftaufnahmen der gezogenen Linie gibt es als drittes Element großformatige Fotos der Ruinen der Patronenfabrik auf dem Lindenberg. Die meisten wurden im Winter aufgenommen, also in der Jahreszeit, in der hier die Frauen zur Produktion von Munition eingesetzt wurden. Die Ruinen können im Kontext des Gesamtprojektes als Metaphern dafür dienen, wie Vergangenes in der Gegenwart nachwirkt. Unbestreitbar ist Zeit vergangen und die Dinge haben sich geändert. Trotzdem gehört der Beton der Ruinen genauso selbstverständlich zur Gegenwart, wie die Bäume oder sonstige Vegetation, die auf den Fotografien zu sehen sind. Vergangenes ist so betrachtet nicht weit weg und endgültig vorbei, sondern Teil der Gegenwart. Die von der Künstlerin gezogene Linie aus Kalk ist viel unbeständiger als der Beton. Ein paar Regenschauer und es wird von den Umrissen der Baracken nichts mehr zu sehen sein. Die Flüchtigkeit der Linie kann daher als ein Bild dafür verstanden werden, dass die Auseinandersetzung mit dem Vergangenem immer wieder von Neuem stattfinden muss. Immer wieder müssen sich Menschen finden, die hinschauen und die sich selbst den Auftrag geben, anderen zu berichten – wie das die Künstlerin getan hat, aber auch die Historiker*innen, die dieses Thema gewählt haben, oder auch Personen aus Hirtenberg, die an den Gedenkveranstaltungen teilnehmen oder ihren Familien von den damaligen Ereignissen berichten. Während die gezeigten Fotos und der Film konkrete Orte fassen, also räumlich orientiert sind, geht es bei der Nennung der Frauen viel stärker um zeitliche Kategorien. Wir sehen gerade nicht mit einem Blick eine lange Liste. Vielmehr hören wir einen Namen nach dem anderen. Mehr als 28 Minuten dauert die einmalige Nennung aller Frauen – und das obwohl die meisten Nachnamen abgekürzt sind. Aufgrund dieser Abkürzung ist der Informationswert des Gehörten sehr gering. Es geht also nicht um Informationsvermittlung sondern um Vergegenwärtigung. Die große Anzahl der namenlosen KZ-Häftlinge aus Hirtenberg wird für uns als Zeitspanne erfahrbar.
Walter Benjamin, schrieb 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten […]. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“[6] Wir sind aufgerufen an dieser Konstruktion mitzuwirken – etwa indem wir die einzelnen Elemente der dokumentarischen Montage von Rosa Andraschek miteinander in Beziehung setzen oder uns Zeit nehmen, die vorhandenen Informationen genau zu befragen. Wir sind aber auch aufgerufen eine Linie zu ziehen – nicht einen Schlussstrich unter das Gewesene, oder eine Grenzlinie zwischen „uns“ und den „anderen“, sondern eine Verbindungslinie von dem was war, zum dem was ist. Und in der Folge eine Linie zwischen dem was heute in unserem Namen gemacht werden darf und dem, was nicht.
1 Robert Antelme, L’espèce humaine, Paris: Gallimard 1957, zitiert nach Georges Didi-Huberman, Die Namenlosen zwischen Licht und Schatten, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2017, S. 14.
2 Wikipedia zu „Schutzhaft“, https://de.wikipedia.org/wiki/Schutzhaft (zuletzt abgerufen am 19.03.2020)
3 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin: Aufbau-Verlag, 1947, S. 29.
4 Didi-Huberman, Die Namenlosen, a.a.O.a., S. 23.
5 Der wiederholte Gebrauch von Begriffen wie „Ausreisezentren“, die „Konzentration“ von unliebsamen Gruppen sowie, der Versuch, Grundrechte mit einer „Sicherungshaft" auszuhebeln, kennzeichnete den öffentlichen Diskurs der ÖVP/FPÖ Regierung unter Sebastian Kurz und HC Strache.
6 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, I/3, Frankfurt: Suhrkamp, 1974, S. 1241.
412 Namen – 412 SchicksaleRede zur Ausstellungseröffnung am Freitag, 14. Juni 2019 im Kunstverein Baden
Von Brigitte Halbmayr
412 Namen – so betitelt die Künstlerin Rosa Andraschek ihre Soundinstallation zum Gedenken an die Frauen, die in das Konzentrationslager Hirtenberg, ein Außenlager des KZ Mauthausen, verschleppt wurden und dort im sehr kalten Winter 1944/1945 Zwangsarbeit leisten mussten.
412 Namen – die stellvertretend für hunderte Leben stehen, jedes ein besonderes, einzigartiges Leben, und doch in schicksalhaften Jahren viele leidvolle Erfahrungen teilend.
412 Namen – die kurz in unser Bewusstsein treten, aber was lösen sie in uns aus? Werden wir sie in uns weitertragen und wenn ja, wie?
Auf diese drei Themen möchte ich in den folgenden Minuten kurz eingehen.
Zuerst zum Lager selbst: Warum gab es ein KZ-Außenlager Hirtenberg überhaupt? Das KZ-Außenlager wurde einzig dazu geschaffen, um äußerst billige Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie vor Ort zu haben. Die Betriebsstätte der Gustloff-Werke in Hirtenberg gehörte damals zu den Hauptproduzenten von Munition auf österreichischem Gebiet. Der Krieg war schon weit vorangeschritten, die deutsche Wehrmacht führte an allen Fronten bereits einen Rückzugskrieg gegenüber den herannahenden Alliierten, sämtliche Arbeitskräfte – darunter Millionen ZwangsarbeiterInnen, aus Osteuropa verschleppte Frauen und Männer, auch Kriegsgefangene in hoher Zahl – waren bereits im Einsatz für den „Endsieg“. Dazu kamen die Häftlinge in den Konzentrationslagern, die notfalls von KZ zu KZ durch halb Europa zur Zwangsarbeit transportiert wurden. Im Falle Hirtenberg waren es insgesamt rund 400 Frauen, die am 28. September 1944 aus dem KZ Auschwitz-Birkenau eintrafen. Später, im November, kamen noch einige Frauen aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück hinzu. Im bereits bestehenden großen ZwangsarbeiterInnenlager, dem sogenannten „Weinberglager“, wurden einige Baracken mit Stacheldraht umzäunt. Ein weiteres Außenlager des KZ Mauthausen war damit errichtet. [1] Bei den nach Hirtenberg deportierten Auschwitz-Häftlingen handelte es sich um sogenannte Schutzhäftlinge, also politische Häftlinge, und zwar mehrheitlich Russinnen, Polinnen und Italienerinnen. Dies kam nicht von ungefähr: in einem Schreiben des stellvertretenden Betriebsführers Hermann von Pflug Mitte Juni 1944 an das KZ Ravensbrück ersucht er um die Zuweisung von KZ Häftlingen für die Patronenfertigung, spricht sich aber gleichzeitig dezidiert gegen jüdische Häftlinge aus:
(…) falls es sich irgendwie einrichten lässt, möchten wir sie bitten, jüdische weibliche KZ Häftlinge möglichst zum Einsatz hier nicht vorzusehen. (Perz 2006, 383)
Mögen also ökonomische Gründe noch so zwingend sein, es gewinnen dennoch rassistische Ansprüche die Oberhand.
Zu den Frauen:In den Jahren 2002/2003 interviewten wir – ein Team von SozialwissenschafterInnen und HistorikerInnen – insgesamt über 800 Mauthausen-Überlebende in knapp 20 Ländern. Darunter waren auch sieben Frauen, die in Hirtenberg inhaftiert waren. Ihnen ist es zu verdanken, dass wir Details über Arbeits- und Lebensbedingungen in Hirtenberg wissen. Auffallend ist: Gerade die aus osteuropäischen Ländern kommenden Frauen waren mehrfach verschleppte Frauen: zuerst einmal wurden sie in ihren Heimatdörfern bei Razzien oder erzwungenen Versammlungen am Dorfplatz aufgegriffen und zur Zwangsarbeit als sogenannte „Ostarbeiterinnen“ irgendwohin nach Deutschland verschleppt, wo sie zumeist, wie auf einem „Sklavenmarkt“ ausgestellt, von Betrieben ausgesucht wurden. Die meisten von ihnen waren erst 16, 17, 18 Jahre alt. Fluchtversuche, kleine Sabotageakte oder sonstiges Aufbegehren führten dazu, dass sie nach Auschwitz verfrachtet wurden. Für die Frauen war es mehrheitlich ein Glück, dass sie für den Transport weiter nach Hirtenberg ausgewählt wurden. Und dennoch waren auch dort die Überlebensumstände hart: In den Holzbaracken des sogenannten „Weinberglagers“ gab es zwar Öfen, die durften jedoch nicht geheizt werden; Kleidung und Essen waren vollkommen unzureichend; die Bewachung immer wieder brutal und zynisch; zur Zwangsarbeit auf den Lindenberg mussten sie eine dreiviertel Stunde gehen, um dort in 12 Stunden-Schichten zu schuften. Die Arbeit an den Maschinen, das Hantieren mit Sprengpulver war gefährlich:
Neonila Konstantinova Rožkowa (geb. Wenglinskaja) war selbst von einer dieser Explosionen betroffen und wurde dabei verletzt. Sie erinnerte sich:
Die Maschine ist in die Luft geflogen, die komplette Maschine. (…) Ohne jedes menschliche Zutun. (…) die Maschine hat’s zerrissen, nichts ist übrig/. So eine Grube ist übergeblieben, wo die Maschine gestanden hat. Aber warum sie explodiert ist? Sie war mit Eisen eingezäunt, gesichert/. Und sie ist komplett in die Luft geflogen, an die Decke. Und so [Geste] eine Grube war da. Und ich bin zur Seite geschleudert worden. Mich hat’s ja überall erwischt und das hier [Geste] ... (…) Und da [Geste] hier war ein großer Splitter. (Interview Rožkowa, 32f.)
Auch Nadežda Fillipowna Bulava (geb. Kislaja) erinnert sich an diesen Unfall, der von der SS sofort als Sabotageakt ausgelegt und mit voller Härte verfolgt wurde:
Wir sind also zur Schicht angetreten, aber mein Apparat war explodiert. Die, die hinter ihm gesessen war, sah fürchterlich aus, sie war blutüberströmt. Und wir wurden sofort/. Da waren SS-Leute und wir wurden sofort verhaftet. Wir waren ohnehin schon Häftlinge und wurden noch einmal verhaftet. Und sie haben gleich gesagt: Ihr seid zum Tod verurteilt. (Interview Bulava, 6f. vgl. auch 35 und 48)
Am 2. April 1945 wurde das Lager aufgelöst und die Häftlinge auf einen Evakuierungsmarsch nach Mauthausen getrieben: zu Fuß mussten sie 170 km zurücklegen – ohne Proviant, in Regen und Kälte. Besonders Russinnen und Polinnen versuchten zu fliehen, da sie die Rote Armee in der Nähe wussten. Einigen gelang die Flucht, mehrheitlich wurden sie aber „auf der Flucht erschossen“ (die genaue Zahl weiß niemand. Die übrigen erreichten Mauthausen am 18./19. April. Dort wurden sie großteils in Baracken im Steinbruch untergebracht, einige wenige von ihnen weiter zur Zwangsarbeit (in der Wäscherei, Schneiderei,…) herangezogen – Mauthausen selbst befand sich bereits in Auflösung.
Nach der Befreiung am 5. Mai durch die amerikanische Armee versuchten die Frauen mehrheitlich, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Gerade für die vielen Russinnen unter den Hirtenberg-Häftlingen bedeutete die Rückkehr auch eine Rückkehr ins Schweigen, brachte ihnen doch die Tatsache der Verschleppung nach Deutschland den Vorwurf ein, mit den Feinden kollaboriert zu haben. Aleksandra Iwanowna Michajlowa etwa schnitt sich gar die Auschwitz-Nummer aus der Haut und verschwieg ihre KZ-Haft gegenüber den sowjetischen Behörden und Arbeitgebern. Viele Jahre erzählte sie fast niemandem von ihrer Gefangenschaft, erst als Bücher über die Konzentrationslager veröffentlicht wurden, brach auch sie ihr Schweigen. Entschädigungszahlungen aus Deutschland kamen sehr spät – für die meisten wohl zu spät.
Damit komme ich zum dritten Abschnitt meiner Rede:
412 Namen – die kurz in unser Bewusstsein treten.
Wir hören sie heute – und wer letzte Woche in Hirtenberg war, konnte die Namen der 412 Frauen dort hören, wo sie über mehrere Monate im KZ Hirtenberg untergebracht waren und Zwangsarbeit in der Munitionsfabrik leisten mussten. Zusätzlich wurden mit Kalk die Umrisse der ehemaligen Baracken nachgezeichnet.
Rosa Andraschek hat mit ihrer Soundinstallation und der Markierung der Barackenumrisse Geschichte für kurze Zeit hörbar und sichtbar gemacht. Die Namen verhallen, die Umrisse werden vom Regen weggewaschen. Was bleibt? Was nehmen wir mit in unserem Bewusstsein? Mit in den Alltag?
Ich denke, dass sich ja nur im Konkreten, anhand von noch überschaubaren Beispielen verdeutlichen lässt, was Abertausende, ja Millionen Menschen betroffen hat. Diese rund 400 jungen Frauen stehen für die Ausbeutung unzähliger Menschen durch das NS-Regime; sie stehen für das Prinzip Menschenverachtung, für das Prinzip Vernichtung durch Arbeit. Und sie sind Mahnung dafür, wohin Staatsrassismus führt und was passiert, wenn Demokratie und Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Diese Mahnung mögen wir, inspiriert von den Arbeiten der Künstlerin Rosa Andraschek, in unseren Alltag mitnehmen.
[1] Die offizielle Bezeichnung lautete Waffen-SS Arbeitslager Hirtenberg, Gustloff-Werke, Niederdonau. Die Bezeichnung „Arbeitslager der Waffen-SS“ sollte vor allem der Verschleierung dienen und wurde für viele KZ-Außenlager angewandt.
Rede zur Gedenkveranstaltung am Freitag, 7. Juni 2019 in Hirtenberg
Von Christa Bauer, MKÖ
“Der Faschismus ist der innere Schweinehund des Menschen” sagte der Widerstandskämpfer Josef Hindels. Deswegen für uns, dem Mauthausen Komitee Österreich, die Informations- und Sensibilisierungsarbeit bei den Gedenk- und Befreiungsfeiern und all unseren Projekten einen sehr hohen Stellenwert.Die Gedenkfeier in Hirtenberg ist eine von mehr als 110 Gedenk- und Befreiungsfeiern die 2019 im Netzwerk des Mauthausen Komitee Österreich statt. Die diesjährigen Gedenk- und Befreiungsfeiern widmen sich dem Thema "Niemals Nummer. Immer Mensch."
Das letzte Merkmal der Individualität wurde den Neulingen im letzten Akt der Einweisung genommen. Bei der Registrierung wurde jeder mit einer Nummer versehen. Der eigene Name existierte nicht mehr.Die Häftlinge durften sich nur mehr mit ihrer Nummer melden und wurden auch nur mehr mit dieser gerufen.Der Raub des Eigennamens gehört zu den tiefgreifendsten Verstümmelungen des Selbst. Er dokumentiert das Ende der bisherigen Lebensgeschichte.Mit dem Kunstprojekt zur heutigen Gedenkfeier geben wir den im KZ Hirtenberg inhaftieren Frauen symbolisch ihre Namen zurück.Je nach Grund der Einweisung und der Nationalität trug jeder Häftling neben der Nummer ein farbiges Dreieck, den sogenannten "Winkel".Die Häftlinge wurden zusätzlich zur Nummerierung noch nach ihrer Nationalität und dem "Haftgrund" gekennzeichnet.
Diese Kategorisierung beeinflusste nicht nur den Alltag und somit die Chance aufs Überleben, damit wurde auch der Solidarisierung der Häftlinge untereinander und möglichen Widerstandsaktionen systematisch entgegengewirkt. Aber trotzdem gab es Solidarität und Widerstand unter den Häftlingen.Weltweit wird auch heute Menschen die Individualität geraubt. Es wird versucht die Gesellschaft zu spalten. „Identität“ ist wieder Thema. Rechtsextreme Gruppierungen verschleiern Rassismus und Rechtsextremismus unter dem Deckmantel der Wahrung der eigenen Identität.
Menschen werden wieder kategorisiert, sogar teilweise nummeriert – und jene, die helfen, werden als „Gutmenschen“ denunziert. Die Zahl rechtsextremer und rassistischer Straftaten ist in den letzten Jahren massiv angestiegen. Diese werden nicht nur zahlreicher, sondern auch brutaler und gewalttätiger.
Wenn heute Menschen die Individualität geraubt wird, dann ist es unsere Aufgabe dagegen einzutreten und aufzustehen. Viele Überlebende der Nazi-Konzentrationslager kämpfen bis heute oder haben bi zu ihrem Tot gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus gekämpft. Wir ehren diese Menschen und ihren Einsatz, in dem wir heute hinschauen, in dem wir Zivilcourage zeigen. Es ist unsere Aufgabe dafür einzutreten, dass Menschen nicht zu Nummern werden, sondern immer Menschen bleiben.